ICAHD Newsletter Dezember 2015
Weitere Hauszerstörungen als Kollektivstrafe
Während dieses Jahr dem Ende zugeht, werden wir Zeugen von weiterer Gewalt und weiterem Blutvergießen in Palästina/Israel. Gleichzeitig gibt es eine erhöhte Nachfrage nach ICAHD-Touren und nach Analysen. Die Vereinten Nationen geben bekannt, dass innerhalb der letzten zwei Monate mehr als 11250 Palästinenser verletzt worden und über 100 getötet worden sind – einige von ihnen sind unsere Freunde und Kollegen gewesen ( Anas, Sohn unseres Freundes und Mitarbeiters vor Ort, Salim Shawamreh,).
Das Büro der Vereinten Nationen für die für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten(OCHA) berichtet ferner über Israels Versuche, im Zuge der Strategie der ‚Judaisierung’(offizieller Begriff der israelischen Regierung) des gesamten historischen Palästinas, Palästinenser zu vertreiben.
Das Ausmaß der Verwüstung, das die Hauszerstörungen für die palästinensischen Gemeinden bedeuten, ist größer als je zuvor. Familien, deren Zuhause zerstört worden ist, erhalten Notzelte. Doch auch diese werden ihnen weggenommen und konfisziert, so dass sie draußen in Kälte und Regen schlafen müssen. Neuerdings wird von der Armee aus Gründen der Zeit- und Geldersparnis bei Hauszerstörungen auch Sprengstoff verwendet. Diese Vorgehensweise hat viel weitreichendere Auswirkungen auf die Gemeinschaft, da auf diese Weise gleich weitere Häuser in Mitleidenschaft gezogen werden. In das Shuafat Flüchtlingslager, in dem 80000 Palästinenser, verelendet wie Menschen in der Dritten Welt, leben, drangen neulich über tausend Soldaten ein (siehe Video auf der ICAHDuk.org Seite), um das Haus einer einzigen Familie zu zerstören. Und im letzten Monat wurden die Bewohner einer ganzen Ortschaft bei Tubas, in der West Bank viermal aus ihren Häusern vertrieben, als das israelische Militär jeweils das Land für ‚militärische Schießübungen’ beanspruchte. Diese systematischen Vertreibungen verursachen große Instabilität und Unruhe unter den Menschen und erzeugen weitere Gewalt.
Bei Straftatbeständen tauchen diese brutalen illegalen Hauszerstörungen erneut auf. Es handelt sich hier um die kollektive Bestrafung unschuldiger Familien von einzelnen Palästinensern, die krimineller Handlungen bezichtigt werden (ohne Gerichtsverfahren). Selbst der israelische oberste Gerichtshof sieht dies als diskriminierend und als einen Bruch internationalen Rechts an. Krankenhäuser werden gestürmt und Israel exekutiert weiterhin Palästinenser im Rahmen einer Todesschusspolitik.
ICAHD UK Schirmherr John Pilger, der Autor des Buches ‚Palestine is still the issue’ ( Palestina ist immer noch das Thema) sagt in seinem Artikel über die kürzlichen Anschläge von Paris und Beirut „Das Thema Palästina ist die eitrige Wunde der Region, und die oft erwähnte Rechtfertigung für den islamischen Extremismus…. Palästina bietet aber auch das Element der Hoffnung: Lasst den Palästinensern Gerechtigkeit widerfahren und ihr könnt die Welt um sie herum verändern.“ Wir müssen weiterhin Hoffnung haben, wenn wir für die Freiheit der Palästinenser arbeiten.
Am Mittwoch dem 2. Dezember wurde Anas Shawamreh, der jüngste Sohn von Salim und Arabiya Shawamreh, von israelischen Soldaten angeschossen und verletzt. Seitdem dieser Angriff in den sozialen Medien bekanntgemacht wurde, erhält die Familie Todesdrohungen.
Am Nachmittag des 2. Dezember 2015 hatte der fünfzehnjährige Anas Shawamreh das Haus der Familie verlassen, um im Laden an der Ecke Lebensmittel für Arabiya zu kaufen. In der letzten Zeit haben IDF-Soldaten immer wieder in den Straßen der Gegend patroulliert und dabei israelische Flaggen gezeigt und mit Gewehren herumgefuchtelt. So etwas provoziert oftmals palästinensische Jugendliche dazu, Steine zu werfen mit der Botschaft “Haut ab hier, dies ist unser Land, wir wollen Euch hier nicht.“ Die Soldaten beantworten diese Steinwürfe mit Tränengas und Gummigeschossen, um die Jugendlichen zu vertreiben. Wie Defense for Children International und Military Court Watch berichten befinden sind Tausende von Kindern verhaftet und in Administrativhaft genommen worden, unter der Beschuldigung des Steinewerfens. Dabei scheint es egal zu sein, ob das betreffende Kind wirklich daran beteiligt war, oder nicht.
Im Falle von Anas waren früher am Tag Steine geflogen, Anas war daran aber nicht beteiligt. Dennoch, als Anas aus dem Laden kam, wurde er gepackt und in einen israelischen Jeep gezerrt. Nachdem man ihn in unbewohntes Gebiet hinter der Siedlung Adam in der West Bank gebracht hatte, hielt das Auto an, Anas wurde herausgezerrt, geschlagen, und als sich die Soldaten über ihn beugten, wurde er zweimal ins Bein geschossen. Dann fuhren die Soldaten davon und ließen Anas blutend und hilflos am Boden liegend zurück.
Glücklicherweise hatten Palästinenser den Vorfall beobachtet und riefen einen Krankenwagen, der Anas ins Krankenhaus nach Ramallah brachte. Salim und Arabiya wurden benachrichtigt und als Arabiya es erfuhr, brach sie zusammen. Voller Angst erinnerte sie sich an die sechs Hauszerstörungen (Beit Arabiya wurde von ICAHD sechsmal wieder aufgebaut) und wie sehr ihre Familie unter den Israelis bereits gelitten hat.
Zwei Gummigeschosse wurden aus dem Bein von Anas entfernt, seine Knochen waren nicht verletzt. Einen Tag später, am 3. Dezember konnte er nach Hause. Anas hatte jedoch weiterhin große Schmerzen und konnte sich kaum bewegen, sodass man befürchtete, Nerven könnten verletzt sein. Salim hatte aber Angst, ihn ins Krankenhaus nach Ost-Jerusalem zu bringen. Nicht nur kann die Reise dorthin wegen gelegentlicher Gewalt und der Schließung der Checkpoints schwierig sein, sondern in letzter Zeit hat die israelische Armee öfter schon mal palästinensische Krankenhäuser gestürmt und dort nach verletzten „Terroristen“ gesucht. Bei solchen Aktionen wurde Tränengas gesprüht und geschossen. Salim wollte daher in Bezug auf den traumatisierten Anas kein Risiko eingehen und fuhr deshalb mit ihm am 7.12.2015 ins Krankenhaus nach Amman für weitere Untersuchungen. Arabiya blieb zuhause, um in der Nähe ihrer anderen Kinder und Enkelkinder zu sein.
Viele haben Salim und Arabiya kennengelernt, entweder, als sie auf Auslandsreisen von der sechsmaligen Zerstörung ihres Hauses berichtet haben, oder als Gastgeber während eines Wiederaufbaucamps. Vielen möchten ihnen vielleicht jetzt, in Zeiten der Not, helfen. ICAHD sammelt daher Spenden für die medizinischen Kosten, die durch diese Verletzung entstanden sind, oder für was auch immer sonst notwendig sein könnte, um dieser Familie, die weiterhin unter der brutalen israelischen Besatzung lebt und leidet, unsere Solidarität zu zeigen.
Am 4. 12. 2015 hat das Büro der UNO für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) berichtet, dass in der besetzten West Bank und in Israel zwischen dem 1. Oktober und dem 30. November 2015 103 Palästinenser, darunter 23 Kinder, getötet worden sind. Im gleichen Zeitraum kamen 17 Israelis ums Leben. 11299 Palästinenser und mindestens 182 Israelis wurden verletzt. (Am 8. Dezember berichtete der Nachrichtensender Channel 4, dass die Zahl der palästinensischen Verletzten auf 13500 angestiegen sei.) Diese Statistiken unterstreichen die Feststellung von Eran Efrati, dem Vorsitzenden von ICAHD USA, der am 11. Oktober sagte, dass er Berichte von Soldaten in der israelischen Armee erhalte, wonach ihre Einsatzbefehle sich völlig geändert hätten, und dass Vorgehensweisen, die bislang bis zu einem gewissen Grad nur in Gaza und in bestimmten Bereichen der West Bank üblich gewesen seien, nun auf dem gesamten Gebiet von Palästina und Israel angewandt würden. Die Soldaten hätten ‚freie Hand’ bei der Eröffnung von Feuer auf jedweden palästinensischen Bürger, der ihnen suspekt erscheine. Dies könnte die hohe Anzahl von palästinensischen Verletzten erklären. Wir befürchten allerdings, dass es sich auch um den bewussten Versuch der israelischen Regierung handelt, die Palästinenser zu radikalisieren, besonders Teenager wie Anas, und andere junge Männer.
Salim berichtete uns, dass er Angst habe, das Haus zu verlassen, wegen all der Angriffe und Straßenblockaden. Andere Palästinenser berichten Ähnliches. Jeff Halper sagt, dass, zusammen mit Hauszerstörungen und Vertreibungen diese ‚Jagd’ auf Palästinenser Teil der ‚Aufräumungsarbeiten’ seien, die sich im Zuge der angestrebten ‚Lagerhaltung’ (warehousing) der Palästinenser ergeben.